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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 27.3.1977
Bachs
Passionsmusik in der Stadtkirche Nagold
Eindrucksvolle Darstellung vor 700 Zuhörern - Durchbruch
zu einer größeren Hörergemeinde? - Reiz und Wagnis
Nagold. Kantor Gerhard Kaufmann hatte es gewiß schon lange gereizt,
in die Geheimnisse der Bachschen Passionen einzudringen. Mag es auch noch
so viele, am laufenden Band kommunizierbaren Plattenaufnahmen geben -
jede selbst inszenierte und in der Praxis erlebte Aufführung ist
immer ein neues Wagnis mit unwägbaren Risiken, denn sie fordert zwei
Stunden lang höchste Konzentration aller Beteiligten. Für den
Dirigenten ergeben sich ständig gestalterische Probleme. Um eines
gleich vorwegzunehmen: buchstäblich in letzter Minute mußte
ein Ersatz für den erkrankten "Christus" Bernhard Köbele
gefunden werden, es blieb nicht einmal Zeit, dies rechtzeitig anzukündigen,
doch der Freiburger Ernst Christian Lauer war ein sehr sicherer und gewiß
ebenbürtiger Partner.
Daß am vergangenen Sonntag zum erstenmal die Aufführung der
Johannes-Passion in Nagold überhaupt möglich wurde, bedurfte
eines jahrelangen kontinuierlichen Aufbaues der Grundvoraussetzung eines
leistungsfähigen Chores. Die evangelische Kantorei hatte unter Kaufmanns
Regie den einzig richtigen, wenngleich manchmal mühseligen Umweg
eingeschlagen durch die intensive Beschäftigung mit der Chormusik
aus allen Epochen unseres reichen Kulturlebens. Nur so kann man dem "Gradus
ad Parnassum" gerecht werden, denn nicht von ungefähr ist Johann
Sebastian Bach auch heute noch das zentrale Ereignis der Musikgeschichte.
In ihm kulminiert eine Entwicklung von der Gregorianik bis zur Renaissance;
nach ihm gab es ein langes Vakuum, ehe die "Klassiker" aus seinem
Formenreichtum neue Ausgangspositionen bezogen. Er ist bislang noch immer
die unversiegbare, bisweilen auch mißbrauchte Quelle der Inspiration
und Qualitätsforderung, an der sich Komponisten und Interpreten messen
lassen müssen.
Daß Gerhard Kaufmann diesen Anspruch in jedem seiner Konzerte herausfordert,
bewies er auch am vergangenen Sonntag vor den fast 700 Zuhörern in
der Stadtkirche durch eine sehr eindrucksvolle, die Dramatik dieser Passionsdarstellung
umsetzenden Wiedergabe. Dabei verzichtete er auf den schon zum Standard
gewordenen Massenaufwand und bezog sich auf den von Bach selbst praktizierten
Ausgangspunkt, mit leichten Abweichungen, auch in der Continuobesetzung.
Dem Chor als tragendes Fundament, oblagen drei Aufgaben: durch die in
68 Abschnitte gegliederte Passion ziehen sich elf ständig variierende
Choräle, die Kaufmann als betrachtend-verklärende Kommentare
in das historische Geschehen einblendete. Den "Turbae", des
Volkes Stimme, die einmal die Gottesidee verherrlichen und zum andern
den von Gott gesandten Erdensohn zur Kreuzigung verdammen, verlieh er
in der Korrespondenz mit den Solisten Vehemenz, entzog ihnen aber andererseits
in den fugierten Chorpartien gleich zum Eingang "Herr, unser Herrscher"
oder "Bist du nicht seiner Jünger einer?" oder "Wir
haben ein Gesetz" wohl zugunsten einer Verdeutlichung der formalen,
singtechnisch auch sehr heiklen Anlage, die im Grunde aufwühlende
Spannung. Dennoch hat sich dieser Chor in allen Phasen, selbst in so schwierigen
Einsätzen wie in der Baßarie "Eilt, eilt", großartig
bewährt. Ihm gilt unser uneingeschränktes Kompliment, auch wenn
die Soprane seit neuestem dazu neigen, in den hohen Lagen schrill zu forcieren.
Die in das gestalterische Format des Frankfurter Tenors Friedrich Melzer
gesetzten Erwartungen wurden weitgehendst erfüllt. Er war unter den
Solisten die herausragende, intelligente Sängerpersönlichkeit,
bestimmte durch seine Kunst feinster Differenzierungen besonders im Mittelteil
den dramatischen Höhepunkt der Handlung. Allerdings hielt er sich
in den Arien zurück, als ob sie ihm stimmlich Beschwerden bereiteten.
Die besonders ab der Mittellage sonore und raumfüllende Stimme des
Baritons Ernst Christian Lauer gab sowohl den Christus-Partien wie den
Arien Eindringlichkeit und Ausdrucksstärke. Als "Pilatus"
konnte der Balinger Paul Bischoff immer dann überzeugen, wenn er
aus der zu oft geübten Verhaltenheit heraustrat. Die Stuttgarter
Altistin Gerda Blau-Lorek, die wir hier als Liedinterpretin in bester
Erinnerung haben, nahm die Tempi in den beiden Arien sehr gedehnt und
versagte sich dabei den inneren Antrieb der drängenden und erlösenden
Klage akzentreich vom Cellisten Ulrich Funk umspielt. Dietburg Spohr,
Heilbronn, konnte sich besser in Szene setzen. wobei sie dazu neigt, die
hohen Lagen engkehlig kraftvoll anzugehen, worunter die sprachliche Artikulation
leidet. Die vom Flötenduo umschlungene Arie "Ich folge dir gleichfalls"
war vom musikalischen Ausdruck her gesehen eine Glanzleistung.
Das zur instrumentalen Unterstützung herangezogene Tübinger
Kantatenorchester wies mit Christoph Tautz (Oboe), Uli Wörz (Flöte)
und Reinhard Baumann (Kontrabaß) weitere lobenswerte Solisten auf.
Der Nagolder Rudolf Schmid war auf der ausgeliehenen, allerdings wenig
variierbaren Truhen-Orgel eine stets zuverlässige Continuostütze.
Gerhard Kaufmann schließlich, um eine wichtige Erfahrung in seinem
Musikerleben reicher geworden, gebührt sicher der Dank aller Zuhörer,
die an diese in Erlebnis einer in sich klar konzipierten Aufführung
dieses großartigen Werkes teilhaben konnten. Vielleicht ist ihm
endlich nach Jahren des Bemühens der Durchbruch zu einer so großen
Hörergemeinde gelungen.
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